Die Eismacher

oder: Ist Poesie ein Beruf?

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Liebe Arbeit,

ich habe kürzlich den Roman „Die Eismacher“ von Ernest van der Kwast gelesen. Er handelt von der Familie Talamini aus den Dolomiten, die über Generationen ein Eiscafé in Rotterdam betreibt. Der lange Sommer gehört dem Eiscafé und der kurze Winter den Dolomiten.

Der ältere Sohn und Icherzähler Giovanni beschließt, nicht Eismacher zu werden, sondern seiner Leidenschaft, der Poesie, zu folgen. „Die Eismacher“ ist insofern ein Familienroman und es gibt eine spannende Wendung mit Giovannis Bruder Luca und der nächsten Generation, die ich hier nicht verraten will. Irgendwie ist das ganze Buch auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, was denn nun eine richtige Arbeit ist und deshalb beschäftigt mich das Thema hier.

Ist es die Arbeit der Eismacher, die von stundenlangem Vorbereiten und Rühren in der Eisküche geprägt ist, vom ewigen Bedienen und Freundlichsein, während alle anderen Urlaub oder Freizeit oder zumindest eine kleine Pause auf der Terrasse des Eiscafés haben? Wird Arbeit von Mühsal geadelt und ist sie wertvoller, wenn Entsagung eine Rolle spielt? Die Eismacher werken täglich im Kreis der Familie, verzichten auf Urlaub – zumindest im Sommer – und haben Arbeitszeiten, die weit jenseits einer gewerkschaftlichen 37,5-Stundenwoche sind.

Giovanni schert aus

Dem steht die Arbeit von Giovanni gegenüber, der mit Dichtern spricht, sie auf Lesungen trifft und begleitet, mit ihnen reist und speist. Er besucht Poesieveranstaltungen und organisiert sie selbst und verhilft so den Dichtern und ihren Werken zu mehr Öffentlichkeit. Ist das Arbeit?

Aus der Sicht des Eismachervaters ist das keinesfalls Arbeit. Beide Eltern sind stumm entsetzt über Giovannis Verrat an der Tradition. Es gelingt ihnen nicht, ihre Enttäuschung in Worte zu fassen. Ein Verständigung entsteht zu Lebzeiten nicht und eine Versöhnung findet nicht statt. Auch die beiden Brüder erkennen die Unvereinbarkeit ihrer Lebensentwürfe und schaffen es nicht, den entscheidenden Schritt aufeinander zu zu machen. Ohne die Frage explizit zu stellen oder gar einen Versuch der Beantwortung zu machen, wird die Frage „gehört sich das?“ erst in der Folgegeneration durch Fakten aus dem Weg geschafft. Der Sohn geht nach kurzem Exkurs zurück in die Familientradition und setzt die Eismacherei fort.

Ich halte das für einen sehr wahrscheinlichen Verlauf einer Familiengeschichte. Auch genau deshalb, weil die zentrale Frage nicht geklärt wird. So entwickelt sich eher eine Legende um den abtrünnigen Giovanni, die mehr über die Familie und das Eismachen sagt, als es eine Aussprache zwischen den Generationen und Familienmitgliedern hätte bewirken können. Für Jahre in die Zukunft ergibt diese Geschichte Stoff für Erzählungen bei Familienfeiern in den Dolomiten und für Gutennachtgeschichten auf der Bettkante, wenn die Kinder nach den Vorfahren fragen.

Was werden die Talamini dann erzählen? Dass es mal einen Verrückten in ihrer Familie gab? Oder wird jemand der Poesie einen Wert beimessen, der anders als der Wert von handgemachtem Speiseeis ist, aber eben auch ein Genuss ist, nur für einen anderen unserer Sinne?

Bezeichnenderweise trägt der Roman diesen stillen Streit an Speiseeis und Poesie aus. Beides ist nicht lebensnotwendig, sondern ein sinnlicher Genuss. Braucht es unbedingt Eis? Kann man ohne Gedichte leben? Man kann. Aber sollte man?

Welche Arbeit ist was wert?

Beim Lesen musste ich häufiger an „Frederick“ von Leo Lionni denken. Das ist das Kinderbuch über die Maus Frederick, die vor dem nahenden Winter Sonnenstrahlen, Farben und Wörte anstelle von Körnern sammelt, und die später im Winter die Seelen und Herzen der anderen Mäuse mit Geschichten wärmt, als die Körner längst gefressen sind.

Hier wird sogar das Überlebensnotwendige – die Körner – in Kontrast zum scheinbar Überflüssigen – der Erinnerung an Sonnenstrahlen – gestellt. Lionni gibt den Sonnenstrahlen und Wörtern eine Existenzberechtigung und der scheinbar faule Frederick ist rehabilitiert, indem er die Mitmäuse geschichtenerzählend über die hungrige Zeit rettet.

Dieses Geschenk bleibt dem Dichterfreund Giovanni weitgehend verwehrt. Nur Lucas Sohn interessiert sich anfangs für Poesie, bevor er den Weg zurück ins Eiscafé wählt. Wie sehr er das aus eigenen Stücken, aus Einsicht, Abwägung oder vor dem übermächtigen Druck der Tradition tut, erschließt sich nicht. „Wir sind eine Familie von Eismachern“ ist Mantra, Erbe und Verpflichtung.

Freie Wahl

Und was heißt das für die Arbeit? Die eigenständige Entscheidung von Giovanni, der einen Art von Genuss zu entsagen und einen anderen Genuss zu suchen, so dass daraus ein Beruf wird, erscheint uns westlichen Menschen anfangs des 21. Jahrhunderts als begrüßenswerte Selbstverwirklichung. Wir heben das Individuum über die Tradition der Familie.

Dabei hat das Sich-Einfügen in die Abfolge der familiären Berufswahl seinen eigenen Charme. Ganz viele Entscheidungen müssen nicht mehr getroffen werden, denn die Antworten sind klar: Wer welche Verantwortung hat, wie gearbeitet wird, wer wem zuarbeitet. Die Erleichterung, all das nicht denken, entscheiden oder gar gestalten zu müssen, kann Energie für Anderes freisetzen: Das Erfinden neuer Eissorten oder gar das Genießen der kleinen Freiheiten, wenn nun die großen Rahmenbedingungen schon mal gesetzt sind.

Giovannis Bruder Luca erlebt diese Freiheit nicht. Er begibt sich in die Pflicht und leidet meist stumm unter ihrer Erfüllung. Sein Ärger über den Bruder bewahrt ihn vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Entscheidung und verhindert damit, das Glück zu empfinden, das die Tradition ja auch bieten könnte. Immerhin „läuft“ das Eiscafé gut – beileibe keine Selbstverständlichkeit.

Würde ich einen solchen Weg wollen? Ich glaube nicht. Meine Selbstwahrnehmung ist, auf meinem eigenen Pfad unterwegs zu sein und nicht das elterliche Handwerk fortgeführt zu haben. Aus anderem Blickwinkel betrachtet, setze ich sehr viel vom elterlichen Weg fort und lebe ein sehr ähnliches Leben. Vielleicht ist das ja genau die Freiheit, sich selbst entscheiden zu können, selbst wenn dabei das Gleiche herauskommt.

Insofern könnte der jüngste Sproß der Talamini wirklich glücklich werden, denn er wählt das Eiscafé, nachdem er seine Nase ein paar Jahre lang in die Welt der Poesie gesteckt hatte.

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