Briefe und Audit

Liebe Arbeit,

ich habe in den letzten Wochen Jeanne Marie Laskas‘ „Briefe an Obama. Das Porträt einer Nation“ gelesen. Es geht um die Briefe, die während Obamas Präsidentschaft im Weißen Haus eingegangen sind, und um die täglichen zehn Briefe, die er während der acht Jahre las und beantwortete. Das Buch wirft einen fokussierten Blick auf diesen Präsidenten und die Menschen, die sich ein Herz fassten und ihren Präsidenten anschrieben. Natürlich gab es ein Kommunikationsbüro, das die Briefe auswählte und vorsortierte, und das einen Filter darstellte. Ich gewann beim Lesen den Eindruck, dass Obama in einer Weise nah am Volk war, die ihn auszeichnete und die diese beiden Amtszeiten so besonders machten.

Hier ist mir der Führungsaspekt wichtig. Erstens musste ich beim Lesen an das Viable Systems Model (VSM) von Stafford Beer denken. Das ist ein an biologische Systeme angelehnte Darstellung erforderlicher Systemelemente in einer Organisation, damit das Weiterleben gelingt. Dahinter stehen systemtheoretische Überlegungen. Im VSM gibt es das mit „Audit“ bezeichnete System, das der führenden Funktion – vorbei an den Zwischenebenen – direkte Rückmeldungen von der Basis liefert.

In einem Audit passiert sowas auch: Der Audit ist im Auftrag der obersten Führung unterwegs und prüft unter Umgehung der Linienfunktionen, was auf der Arbeitsebene passiert. Meine Analogie zu den Briefen an Obama ist: Hier bekommt der Präsident ungeschminkt die Wünsche und Anforderungen der Leute zu hören und Rückmeldungen zu seinen Reden und Taten. Das könnte Beer mit dem direkten Kanal gemeint haben.

Nun kann ein System auch ohne diesen Kanal leben, das haben hinsichtlich der Präsidentschaft und des politischen Systems in den USA die Präsidenten vor und nach Obama belegt. Seine Beliebtheit und das Vertrauen, das viele Amerikaner in ihn setzten, kam aber vielleicht aus einer Nähe, die eben durch diese Briefe und die Antworten darauf entstanden ist.

Nun kann man – und das war mein zweiter Hauptgedanke zu dem Buch für diesen Post – an Organisationen denken, die etwas kleiner sind als der amerikanische Staat. Und die Frage stellen, welcher Vorstand oder Geschäftsführer eines Unternehmens sich einen direkten Draht zu seinen Angestellten schafft und bewahrt. Es sollte einem, wenn man weniger als 300 Millionen Menschen führt, alleine der Menge wegen leichter fallen als dem amerikanischen Präsidenten.

Es gibt Kamingespräche und Frühstückstreffen mit Führungskräften, gerade in großen Häusern. Ich will nicht in Abrede stellen, dass man sich dort um Verständnis bemüht und den Mitarbeitenden auch wirklich zuhört. Aber: schreibt heute noch jemand Briefe, bzw. briefartig ausformulierte Emails an Chefs? Irgendwas an Obama hat die Leute dazu gebracht. Vielleicht war die Ferne des Amtes sogar dafür förderlich, um sich Sorgen und Nöte von der Seele zu schreiben.

Und dann gibt es die Ruhe, die man als Führungskraft alleine mit dem geschriebenen Wort hat und darauf reagieren kann. Ohne jemanden, der zusieht, ohne Zeitdruck und ohne Performanceanforderung. Man kann Gedanken sortieren und dann reflektiert und so menschlich und emotional wie man ist und will darauf antworten. Neben der Wertschätzung für den Einzelnen gewinnt man als Führungskraft einen kleinen und direkten Einblick in das, was die Leute bewegt.

Das finde ich eine schöne Vorstellung. Es könnte ein Aspekt von Führung sein, der im Stillen geschieht, in einer nicht von außen gesteuerten Eigenzeit. Dieser Aspekt entfaltet seine Kraft durch ehrliches Interesse an den vielen kleinen und kurzen Beziehungen, die durch den Briefwechsel entstehen. Das sieht bestimmt nicht nach „Macher“ aus, könnte aber zum „Bewirker“ beitragen.

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