Blick aufs Unscharfe
Foto von Devin Avery auf unsplash.com
Liebe Arbeit,
ich habe die Vorstellung, ich könne besonders gut mit dir zurechtkommen, wenn ich mich richtig auf dich konzentriere, und mich dabei in dich hineinvertiefe. Dann sollte es mir leichter fallen, Aufgaben fertigzustellen oder sie gut zu machen und mich dann wohl zu fühlen. Das klingt so plausibel, dass ich mich kaum traue, den Gedanken aufzuschreiben, unfokussiert zu sein könne auch zu guten Ergebnissen führen.
Mein erster bewusster Kontakt mit Fokus war schon früh. So früh, wie ich mich überhaupt zurückerinnern kann.
Fokus als Normalzustand
In meiner Wahrnehmung war ich als Kind sehr fokussiert und trotzdem ist die Empfehlung „konzentrier‘ dich mal!“ eine tief eingebrannte Kindheitserinnerung. Ich konnte stundenlang lesen, zeichnen oder Lego spielen. Das ging sogar dann, wenn um mich herum ganz andere Aktivitäten brausten. Ein Familienumzug zum Beispiel. Ich saß dann auf der Treppe und las mein Buch.
Meine Oma hat mein Lesen damit kommentiert, ich würde wohl mal Professor werden. Diesen Beruf verknüpfte sie mit der Ausprägung „zerstreut“, so dass sie prognostizierte „das wird mal ein zerstreuter Professor“. Diese Voraussage ist überraschend und widersprüchlich, weil ich glaube, dass ich alles andere als zerstreut war. Eher war ich ins Buch vertieft und wie aus einen anderen Welt gerissen, wenn ich beim Lesen angesprochen und gestört wurde. Ich wusste dann im ersten Moment nicht, wo ich war.
Heute glaube ich, dass ich damals schlecht hörte. Ich hatte über Jahre immer wieder Ohrenschmerzen und die HNO-Ärzte haben damals Kindern noch keine Röhrchen in Trommelfelle gesetzt wie heute, um das Mittelohr zu belüften. So war ich vermutlich deswegen fokussiert, weil alles Akustische defokussiert und ich viel in meinem Kopf mit mir war. Auch Menschen mit Hörgerät blenden bisweilen mit ihrem Lautstärkeregler einen Teil des Lärms der Welt aus. Sie schauen dann verwirrt, wenn die Umwelt partout wieder Verbindung aufbauen will.
So ist Fokus vielleicht weniger die Konzentration aufs Wesentliche als vielmehr das Ausblenden des Ablenkenden. Also die Inhibitionsleistung des Bewusstseins gegen die heranschwirrenden mentalen Karten aus nahen und fernen Hirnregionen oder eben auch aus den Sinnesorganen.
Fokus als Methode
In der Schulzeit wird die Aufforderung zur Konzentration zum Mantra. Wem sie gelingt – wie mir meist, damit hatte ich ja Erfahrung – der hat gute Chancen, mit Schule und Ausbildung gut zurechtzukommen und sich so auf die Arbeitswelt und ihre Anforderungen einzustellen. Dort geht die Konzentration weiter. In Expertenlaufbahnen, die nicht breit aber tief angelegt sind. In auf Effizienz abgestimmten arbeitsteiligen Zusammenarbeitsmodellen. Das gilt in der New Work Arbeitswelt auch heute. Fokus ist einer der fünf Werte im Scrum Guide, und Cal Newport beschwört Fokus und Konzentration für Deep Work. Hohe Leistung und gute Ergebnisse scheinen Fokus und Konzentration zu erfordern.
Dabei bist du, liebe Arbeit, selbst beweglich und nicht gut greifbar, wenn du nicht gerade repetitive, also vorhersehbare Tätigkeit bist. Du entziehst dich in deiner kreativen Spielart der genauen Festlegung. Da muss ich – wie der Fotograf – flott den Fokus nachstellen, um mit dir mitzuhalten, oder? Fokus hier und Fokus da. Und dann verliere ich vor lauter Nachfokussieren irgendwann den – ähm, Fokus. Also eigentlich den Überblick. Wie, bitte? Sind Fokus und Überblick nicht Gegensätze?
Fokus als Problem zur Lösung
Hier angelangt frage ich, ob der Fokus als Methode sich selbst erhält. Also, ob er das Problem selbst schafft, das er zu lösen vorgibt. Das Ausblenden des Außenrum beschneidet das Thema im Fokus ja seiner Beziehungen zur Umwelt, was nicht nur Systemtheoretikern Kopfzerbrechen bereitet. Auch der Praktiker verliert bei zu eng eingestelltem Blick das Gefühl fürs Ganze, das doch ebenso wichtig ist wie das Detail. Was will ich denn mit dem im Kleinen so präzise bewältigten Teil von dir, meine Arbeit, wenn ich dafür nicht mehr weiß, wo ich eigentlich bin? Und im nächsten Moment wieder fokussieren muss, nur woanders hin. Wer mal damit angefangen hat, kann nicht mehr aufhören. Fokus, Fokus, Fokus. Und eh du dich versiehst, hast du schon lange keinen Überblick mehr.
Der Fotograf ist mit seiner Linse in der Physik gefangen und kann uns nicht aus dem Problem mit der Fokus-Metapher helfen. Will er mehrere Punkte fokussieren, die nicht auf derselben Ebene sind, kann er nur die Blende schließen, damit die Schärfentiefe zunimmt und auch die Gegenstände schärfer abgebildet werden, die unterschiedlich weit weg sind. Er erkauft sich die enge Blende mit weniger Licht in der Linse, muss höhere Empfindlichkeit wählen und fängt sich gröbere Körnung und mehr Rauschen ein. Systembedingte Unschärfe macht ihm einen Strich durch die Rechnung. So leicht lässt sich die Physik nicht austricksen.
Mehrere Dinge im Blick zu haben geht nicht, wenn man klassisch fokussiert.
Fokus als Ablenkung
Erst vor wenigen Jahren hat mich eine verschmitzte Anleitung zum Meditieren auf eine neue Idee zu Fokus gebracht. Ein Mönch erklärt, der Meditierende versuche seine Aufmerksamkeit, die wie ein Äffchen bald hierhin, bald dorthin springe, mit etwas einfachem wie dem Atem zu beschäftigen, damit sie den restlichen Geist nicht dabei störe, die Gedanken weiterziehen zu lassen. Seither mag ich den paradoxen Gedanken, mit Fokus bewusst abzulenken. Es ist ein bisschen wie das halbe Schließen der Augenlider, so dass man nichts mehr genau, aber dafür alles ungenau sieht. Ja, die letzten beiden Sätze kann man auch zweimal lesen.
Wahrscheinlich braucht es das beides, abwechselnd oder gleichzeitig: Fokus auf Konkretes, das genau analysiert, präzise bearbeitet und gestaltet werden kann. Und der eher gefühlte als physisch scharf gesehene Blick aufs Ganze, der das Konkrete einsortiert, in Beziehung setzt, ohne von einem Detail gefangengenommen zu sein. Und der den aufmerksamen Sinneskanal genau so weit beschäftigt, dass der restliche Geist wahrnehmen kann, was sonst noch insgesamt so passiert und wichtig ist.
Fokus als Betrachtungssphäre
Mit Fokus stelle ich den Blick so eng, dass die Aufgabe, die ich angehe, nicht mehr komplex, sondern höchstens kompliziert ist. Mit Defokus sorge ich dafür, mehr Komplexität wahrzunehmen, wofür ich mehr als einen Sinn brauche. Vermutlich muss ich mit meinem ganzen Geist da sein – geistesgegenwärtig sein. Ich nutze bewährte Praktiken, um das fokussierte Konkrete zu bearbeiten, und setze auf das Erkennen von Mustern für das Umgehen mit dem Komplexen. Gute Praktiken und emergente Praktiken.
Vielleicht beschreiben die vier Domänen im Cynefin Modell keine unterschiedlichen Fälle, sondern eher Betrachtungssphären, also konzentrische Kugeln. Einfach ist es innen in der kleinsten Kugel, bei der alles Komplizierte und Komplexe außenrum ausgeblendet ist. Je mehr Komplexität ich ausblende, desto einfacher wird meine Problemstellung und desto deskriptiver sind die verwendbaren Lösungsansätze. Mir scheint, auf diesem Weg sind wir weit gekommen in der Expertenlogik unserer Wissensgesellschaft.
Wenn aber mal wieder der Blick aufs Ganze Not tut, dann ist „Konzentrier dich nicht so!“ vielleicht eine gute alternative Empfehlung. Defokussiere dich bitte. Sei unscharf, unpräzise. Mach die Augen weit. Lass den Geist wandern und hebe auf, worüber er stolpert. Könnte emergent nützlich sein und dir helfen, deine Arbeit im größeren Zusammenhang zu sehen. Das möchte ich mal eine Vorgesetzte einem Mitarbeiter empfehlen hören.
Wie findest du das, meine Arbeit, wenn ich einen Schritt zurücktrete und dich nicht mehr starr und konzentriert anvisiere? Dir Raum lasse und dich im Ganzen, und wie du so in Bezug auf mein ganzes Leben da stehst, betrachte? Ist schon cool, oder? Macht aber auch etwas Angst, weil ungewohnt. „If you love somebody, set them free“, hat Sting gesagt. Ich könnte dich loslassen und schauen, ob du bleibst. Oder gehst und wiederkehrst. Vielleicht ein neuer Abschnitt in unserer Beziehung.
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Aus meiner täglichen „Auseinandersetzung“ mit der Arbeit würde ich gerne ergänzen:
Die Augen etwas zuzukneifen, bewusste Unschärfe zuzulassen und so den Blick aufs „große Ganze“ zu erhalten, ist in vielen Fällen z. B. bei grundlegenden Entscheidungsfindungsprozessen genauso erforderlich, wie (parallel) an ausgewählten Themen sehr fokussiert und detailliert zu arbeiten…
Es kommt auf die Grenzen an, zwischen denen wir dies betrachten.
Die mathematische Aufgabe „2 + 2 =“ zu lösen wird nur mit Fokus auf die Grundrechenarten mit dem richtigen Ergebnis enden. Der Blick aufs „große Ganze“ hilft da nicht wirklich.
Aber ob zwei (z. B. bestehende Lösungen) und 2 (z. B. neue Ideen) zusammen vielleicht auch mal mehr als vier sein können, wird man nur erkennen, wenn man Abstand nimmt, mal von der anderen Seite darauf schaut, den Kopf schief legt und die Augen zukneift…
… danke für die Ergänzung und das plastische Beispiel, Jörg