Disziplin I

Disziplin alleine reicht nicht (Teil 1 von 2)

Foto von Thao le Hoang auf unsplash.com

Liebe Arbeit,

im Laufe unserer gemeinsamen Zeit hatte ich Anstrengungen zu unternehmen, die ich gerne vermieden hätte. Es galt, neue Inhalte zu lernen, sich Fähigkeiten anzueignen, oder auch nur Dinge zu erledigen, die ich spontan lieber liegen gelassen hätte.

In meinem Kopf meldeten sich dann meist Stimmen, die mir auf die eine oder andere Weise Disziplin empfahlen. Ich möge durchhalten, an Dingen dranbleiben, mich anstrengen und nicht aufgeben. Das habe ich auch häufig getan und habe Durststrecken durchgestanden, Inventurlisten abgearbeitet, Projektberichte geschrieben, Stapel von Folien gemalt, schwer verständliche Fachbücher von vorne bis hinten gelesen. Diese Liste könnte ich noch lange fortsetzen, wie du weißt.

Immer wenn ich etwas nicht durchgehalten habe, mich habe ablenken lassen und ein Ergebnis abgeliefert habe, das weniger als gut war, habe ich mich zudem schlecht und unvollkommen gefühlt. Eher sogar unvollständig gefühlt. Erst in den letzten Jahren habe ich eine Ahnung, woran das gelegen haben könnte und was mir da immer gefehlt hat. Heute glaube ich, dass das vorrangige Anrufen der ‚Disziplin‘ zu eng gedacht ist und einige der anderen wichtigen Stimmen außer Acht lässt. Das ist nicht nur ein schädliches Ignorieren von Bedürfnissen sondern auch ein Übergehen von Energien, die bei der Umsetzung des Vorhabens unterstützen können.

Ich erklär mal Schritt für Schritt, was ich meine.

Die gute Absicht

Meist beginnt es mit einer guten Absicht. Ich nehme mir etwas vor, das ich selbst will oder das zu wollen ich für mich angenommen habe. Auf neuhochdeutsch sagen wir ‚commitment‘ dazu. Einen Blogartikel schreiben. Den Tätigkeitsbericht direkt am Abend ausfüllen. Den wichtigen Fachartikel lesen und sinnvoll ablegen oder verlinken.

Dann kommt die bunte Welt mit ihren wichtigen und glitzernden dringenden Themen und tausend Ablenkungen und ich stelle später fest, dass ich mein Vorhaben nicht realisiert habe. Der Artikel ist nicht geschrieben, im Tätigkeitsbericht gähnen die leeren Zeilen und der Fachartikel ist ein weiteres von vielen offenen Browserfenstern.

Das passiert an einzelnen Tagen und auch an Abfolgen von Tagen. Ende Januar ist nichts aus dem ‚jeden Tag an meinem fachlichen Außenauftritt arbeiten‘ vom Neujahrsmorgen geworden, meine Profile in den sozialen Medien erzählen ganz unterschiedliche Dinge von mir, die dringenden Pflichten schaffe ich nach Erinnerung daran und die wichtigen – naja, immer mal. Die Disziplinstimmen rufen „Du müsstest halt mal …“ und es fühlt sich ein bisschen wie Eisessen mit empfindlichen Zähnen an.

Die Ratschläge

Aber es gibt ja Ratgeber, im Netz oder gedruckt. Der erste Rat ist meist: Mache einen Plan1. Verschaffe dir Überblick, priorisiere die wichtigen vor den dringenden Aufgaben, nimm dir nur wenig vor, frage dich, was der nächste wichtige Schritt ist. Mhm. Ja, das hatte ich eigentlich getan, aber es hat nicht ausgereicht.

Wenn der Plan nicht trägt, dann liegt es vielleicht an meiner Willenskraft, sagen die Bücher. Habe ich das, was ich mir vorgenommen habe, wirklich genug gewollt? Also wirklich WIRKLICH gewollt? Das richtige Maß für Entschlossenheit ist sicher nicht leicht festzulegen. Zu der Zeit, als ich mir vornahm, den Tätigkeitsbericht sofort auszufüllen, war es mir schon sehr ernst damit. Aber es war natürlich nicht der einzige Gedanke und auch nicht das allerwichtigste Vorhaben übern Tag. Und zu dem Zeitpunkt, als das Ausfüllen hätte stattfinden können, waren die Prioritäten wieder anders.

Falls Plan + Willenskraft alleine nicht ausreichen, dann wird mir sozialer Druck empfohlen. Ich soll doch im Umfeld erzählen, was ich mir vornehme. Dann könne ich a) Unterstützung von Leuten bekommen, die mir inhaltlich helfen können und b) sei es mir peinlich vor den Anderen, meine Aufgaben nicht fertig zu bekommen. Mit diesem Druck bliebe ich dran. So nutze ich mein Bedürfnis nach Verbindung mit anderen Menschen dazu aus, mich zum Erledigen von Aufgaben zu bringen. Muss ich mich denn selbst austricksen und Freundschaften instrumentalisieren? Beim gemeinsamen Joggen verstehe ich das, aber bei der Steuererklärung …

Dann kann mir Sehnsucht helfen. Ich solle mir ein attraktives Zukunftsbild entwerfen, das mich stark anzieht. Das gute Gefühl der erledigten Aufgaben. Die Freude über den Erkenntnisgewinn aus dem Fachartikel. Die Anerkennung der Anderen, wenn der Blogartikel geschrieben und veröffentlicht ist. Plan + Willenskraft + Verbindung + Sehnsucht wirken jetzt schon zusammen, um dir, liebe Arbeit, näherzukommen, wo du nach Pflicht riechst und um sich mit dir anzufreunden. Und doch ist der Tätigkeitsbericht noch nicht gefüllt.

Dann wird mir das Durchhalten empfohlen. Man müsse auch mal dranbleiben. ‚Der Appetit kommt beim Essen‘ ist so ein Spruch aus dieser Ecke. Beim Laufen macht ja auch nicht jeder Schritt Spaß, deshalb ginge es auch nicht darum, möglichst viele Schritte aneinanderzureihen, sondern sich aufs Joggen einzulassen. Für mich hört sich das ein wenig so an, als solle ich die inneren Stimmen ignorieren, die ‚hör auf!‘ flüstern. Aber woher weiß ich denn sicher, dass die nicht vielleicht recht haben? Mal konnte ich Dinge durchhalten, mal nicht. Das klappt also auch nicht immer.

Bleibt als letzter Rat noch die Gewohnheit2. Plan + Willenskraft + Verbindung + Sehnsucht + Durchhalten schaffen nicht, was die für Verhaltensmuster zuständigen Hirnregionen so zustande bringen sollen. Ich möge die zu erledigende Aufgabe in ein kleines und leicht durchzuführendes Häppchen verwandeln und an eine andere Gewohnheit dranhängen. Das klingt plausibel, einfach umsetzbar und ist wahrscheinlich ein gutes Prinzip. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich jetzt alles nach dem Zähneputzen noch tun muss, bevor ich schlafen gehen kann, damit die Gewohnheiten sich einschleifen für all die Dinge, die zu erledigen sind.

Alles ist Disziplin ist alles

Ich habe mich schon dabei ertappt, dass ich abends das Bad gemieden und keine Zähne geputzt habe. Nur um den neuen Gewohnheitskandidaten zu entgehen. So bin ich eines abends drauf gekommen: Was sich da in mir geregt hat, ist die Autonomie. Die Stimme, die selbst bestimmen will und die auf Pläne und Gewohnheiten und Sehnsucht pfeift. Mir wurde klar, dass alle sechs Empfehlungen aus der Liste oben in gewisser Weise auf Disziplin hinauslaufen. Sie ignorieren, dass die Aufgaben nicht deshalb nicht erledigt wurden, weil Reihenfolge fehlte oder Absicht oder soziales Netz. Sondern dass es jemanden in mir gibt, der mitreden will. Und zwar jedesmal und bei jeder Entscheidung.

Diese Entdeckung hat mich gleichermaßen verstört und erfreut. Verstört, weil die Erklärung für die liegengebliebene Aufgabe plötzlich so einfach greifbar war. Und erfreut, weil ich gemerkt habe, dass darin ein Schlüssel für die Erledigung liegt.

Wie ich die Energie der Autonomie für meine Aufgaben nutzen kann, das schreibe ich im nächsten Post.


1) So beispielsweise das Buch „Design the Life you Love“ von Ayse Birsel

2) Anregend dazu: „Tiny Habits“ von BJ Fogg

Titelfoto von Thao le Hoang auf unsplash.com

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